Überleben

Mein Name ist Wilhelmine Hugo. Ich komme aus Lohfeld, das liegt in Porta Westfalica. Wir wohnen direkt am Waldsaum des Wesergebirges. Heute ist der 2. April 1945. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt geworden und habe bis jetzt zwei Weltkriege überlebt. Dieser zweite zehrt jedoch so enorm an meiner Seele, dass ich heute völlig verzweifelt bin. Wie lange will uns der Allmächtige noch mit diesem Akt des Wahnsinns quälen?
Heute ist eine Feldpost von meinem Schwiegersohn bei uns eingetroffen. Er ist mit der Wehrmacht in Rumänien unterwegs. Die Postkarte hat er auf unser Weihnachtspaket hin geschrieben, so lange war sie unterwegs. Jetzt will meine Tochter, dass ihre Kinder das Lebenszeichen des Vaters nach Nammen zur Schwiegermutter hinüber tragen. Sie ist so glücklich, dass er noch lebt. Ich fühle dieses Glück mit ihr, doch gleichzeitig, und das gestehe ich mir selbst nur in meiner dunkelsten Seelenecke, bin ich schrecklich eifersüchtig. Warum ist es ihr beschieden, den Ehemann zu behalten, während es mir nicht vergönnt war? Warum musste mein geliebter Karl sterben? In jenem ersten Weltkrieg, den wir einfachen Bauersleute nicht begonnen haben, sondern der ferne Kaiser in Berlin? Wie konnte er mich mit der kaum drei Jahre alten Wilhelmine und ihrem neugeborenen Bruder Karl, einem Haufen Schulden und seinen drei Geschwistern, die ihren Teil erben wollten, allein lassen? Es war eine harte Zeit, ich und meine zwei Kinder haben nur überlebt, weil meine Familie zu mir gehalten hat. Wenn es Krieg gibt, dann leiden immer zuerst die Kinder und mit ihnen die Frauen. Diese Zeit damals werde ich nie vergessen, deshalb habe ich meinem lieben Mann im Himmel versprochen, mein ganzes Leben Trauer zu tragen.
Ich habe es strikt verboten, dass die Enkelkinder mit der guten Botschaft aus Rumänien nach Nammen gehen. Jetzt ist Minna schon den ganzen Tag im Garten und lässt ihre schlechte Laune mit dem Spaten an der Erdkrume aus. Aber das ist immer noch besser, als die Kinder durch den Wald über den Berg laufen zu lassen. Gestern sind den ganzen Tag Lastwagen herangerollt und haben oben bei der Gastwirtschaft Mettwurstmöller junge Männer, manche von ihnen aus Emmis Klasse, die Älteste meiner Tochter, heran gekarrt. Heute hört man sie durch den Wald streifen. Ich frage mich, was die dort oben anstellen? Natürlich ist Erwin, Emmis kleiner Bruder, schon verschwunden, um zu sehen, was die Jungs dort oben machen. Wann geht endlich die Schule wieder weiter, dass dem Jungen die gefährlichen Flausen ausgetrieben werden? Ich fürchte erst dann, wenn der Krieg vorbei ist.
Vor ein paar Tagen hat seine Neugier einem Jungen aus Lohfeld das Leben gekostet. Er hatte eine Panzerfaust entdeckt und sie vor seinen Bauch gehalten, als er die noch im Rohr steckende Rakete abfeuerte. Er ist mit seinen schrecklichen Verbrennungen nach Rinteln gekommen, dort sind viele der schwer Verwundeten bei hervorragenden Ärzten in Behandlung. Trotzdem ist der Junge jetzt tot. Gefunden hat er das Ding in dem zerschossenen Lastwagen, der unten bei Schmitz an der Autobahnzufahrt steht. Der Fahrer wollte wohl die Dienstzufahrt auf die Schnellstraße nutzen, um vor dem Luftangriff zu fliehen. Der Lastwagen steht noch da, die verwundeten Männer sind ebenfalls nach Rinteln gekommen. Erwin hat natürlich sofort die Ladefläche zum Spielen entdeckt. Ich kann gar nicht schnell genug Verbote aussprechen, wie der Junge neue Spiele entdeckt, die so ungeheuer gefährlich sind! Er weiß nicht, dass der nächste Luftangriff bestimmt kommen wird und die Piloten wissen ja nicht, dass der Lastwagen schon hin ist. So wie der letzte Luftangriff, der Dienstag die Autobahnbrücke bei Kleinenbremen zerstören sollte. Das hat vielleicht gedonnert, als die ihre Bomben abgeworfen haben! Dabei haben die keine einzige Delle in die Brücke gemacht, nur die Fensterscheiben der Häuser rings umher sind zersplittert. Zielen kann man augenscheinlich mit einer Luft-Bodenbombe nicht. Nur aus dem Flugzeug fallen lassen und dann hauen die Feiglinge ab, noch nicht einmal die Schreie der Getroffenen müssen die sich anhören. Wir haben großes Glück, dass unsere Scheiben heile geblieben sind, jetzt im April sind die Nächte noch empfindlich kalt und die Frühlingsschauer haben eine außerordentlich durchnässende Qualität.
So viel Angst müssen wir Frauen aushalten und sowenig Trost ist uns beschieden. In unserer guten Stube hängt ein kleines Brett. Darauf steht: Wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her - und daneben ist eine brennende Kerze abgebildet. Wie oft habe ich allein heute schon auf diese Kerze geschaut und um das Licht gebetet. Mir schient, es will niemals mehr wiederkommen.





5. April 1945
Jetzt weiß ich, warum die Soldaten in unseren Wald gefahren wurden. Sie mussten Stellungen ausheben und als Vorhut des Weserkessels die Amerikaner aufhalten, die von Westen durch die Porta Westfalica gekommen sind. Wir saßen mitten im Feuerhagel! Welch ein Glück, dass wir das heil überlebt haben. Jetzt sind sie weiter gezogen und stehen vor Rinteln. Ich habe gehört, dass die ihre Brücke nicht übergeben wollen und dass die Amerikaner damit drohen, die Stadt mit ihren Bombern in den Erdboden zu stampfen. Dort sind doch so viele der Schwerverwundeten! Kennen die denn kein Erbarmen? Wenn Rinteln nicht mehr ist, dann müssen wir mit der Bahn nach Minden oder Oeynhausen fahren, um unsere Erdbeeren und die Kirschen zu verhökern. Dann geht die Hälfte des Gewinns für die Fahrkarten flöten. Aber noch sind die Kirschen ja nicht reif. Die kommen erst in gut einem Monat und dann zum Ende Juni geht es erst mit den Erdbeeren los. Ich hoffe, bis dahin hat sich der Krieg aus unserer Ecke der Welt wieder entfernt.
Eins der Flugzeuge, die die Stellungen bei uns im Wald und in Rinteln aus der Luft angegriffen haben, hat etwas abgeworfen, das beinahe unser Backhaus getroffen hätte. Knapp neben dem kleinen Häuschen in unserem Hühnerhof ging es hernieder, erschreckte das arme Federvieh fast zu Tode und zerschellte. Dabei verspritzte die Flüssigkeit im Inneren. Als ich hinzukam, roch ich sofort, dass es Benzin war. Wie gut, dass der Tank nicht auch noch explodiert ist und wie gut, dass ich den Stuten schon vorher fertig gebacken hatte und das Feuer im Ofen nicht mehr brannte. Erwin hat natürlich die Teile als erster gesammelt. In einem war sogar noch etwas Benzin. Das haben wir in den Reservekanister des Motorrades meines Schwiegersohns gegossen. Er hat die Maschine an einen Haken im Schuppen gehängt, damit es über die Zeit, in der er im Krieg ist, nicht auf den Reifen steht. Das Material des Benzinkanisters scheint mir auch sehr gut zu sein. Wir wollen es einsammeln, wer weiß, was daraus noch erwachsen kann.





9. Mai 1945
Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich bin, dass der Krieg zu Ende ist! Jetzt kann das Leben wieder in geordneten Bahnen laufen und der Junge kommt endlich wieder in die Schule!
Heute sollte er unsere Lisa, die Kuh hüten. Dabei ist er doch tatsächlich eingeschlafen und erst aufgewacht, als sie den Kopf hob und er auf ihren Hörnern thronte! Weil es heute so ein Freudentag ist, will ich es ihm nachsehen.

Mitte Mai 1945
Ich habe mich zu früh gefreut. Das Leben läuft noch lange nicht in geordneten Bahnen. Gestern ist etwas Schreckliches geschehen. Die Alliierten haben natürlich alle Kriegsgefangenen befreit. In den alten Stollen des Bergwerkes in Lerbeck haben die Gefangenen schwer schuften müssen. Viele wurden auch nicht sehr gut behandelt. Ich kann ja verstehen, dass sie jetzt nicht zimperlich mit uns umgehen wollen. Aber wir, ich und auch meine ganze Familie nicht, haben ihnen etwas Böses angetan.
Da kam doch gestern eine ganze Bande von den befreiten Polen und hat unser Haus durchsucht! Der eine hat immerzu etwas von einem Mann mit Brille gefaselt. Er suchte wohl einen Mann mit Brille. Erst heute weiß ich, dass er den Tischler Heistermann aus unserer Nachbarschaft suchte. Das ganze Drama fing an, als einer der Polen dem Heistermann sein Fahrrad klauen wollte. Das hat der sich nicht gefallen lassen, er hatte noch seine Armeepistole in der Tasche und hat den Polen mit vorgehaltener Waffe verscheucht. Der hat jedoch seine Leute zusammen getrommelt und die sind am Nachmittag mit einem Lastwagen die Dickertstraße hoch gekommen. Dann haben sie in jedem Haus nach einem Mann mit Brille gesucht. Bei uns ist der ganze Trupp durch die Dielentür und hat erst einmal den massiven Kleiderschrank umgestürzt, der dort steht. Sie haben wohl vermutet, der Gesuchte hätte sich dort drin versteckt. Ich habe in diesen ersten Momenten überhaupt keine Angst gehabt. Dann brüllte der Wortführer, er würde zehn Mann erschießen, wenn er nicht den Mann mit Brille fände.

In diesem Augenblick kam unser Erwin dazu. Er ließ die Tür nur einen Augenblick offen und Alex, unser Schäferhund stürmte mit ihm in die Diele. Erwin konnte das Tier gerade noch beim Halsband fassen, sonst hätte sich der Hund mit Todesverachtung auf die Eindringlinge gestürzt. Ich stellte mich schützend vor den Jungen und merkte da erst, wie sehr der Hund zitterte. Auch der arme Erwin hat einen ganz gewaltigen Schreck bekommen. Er zitterte bald genauso sehr wie sein treuer Alex und auch ich konnte mich nicht dagegen wehren, dass ich zitterte. Doch er zwang das Tier zur Ruhe, das war auch ganz gut so, die hätten den Hund sofort erschossen und uns vielleicht gleich mit. Da die Bande immer noch keinen Mann bei uns auf der Diele gefunden hatte, schon gar keinen mit Brille, stampften sie auf den Strohboden. Das ist aber das Revier der Katze. Sie benutzt das Stroh auch als Katzenklo. Ich hatte meinen besten finsteren Blick aufgesetzt, bis die Kommandantur aus Nammen endlich jemanden schickte, der für Ordnung zu sorgen hatte. Der Tischler Heistermann verfügte über ein Telefon und er hatte dort angerufen, damit jemand die außer Rand und Band geratenen Polen zur Räson brachte. Heute hat Erwin schon wieder breit grinsend erzählt, wie die Polen vor dem ranghohen Amerikaner standen und sich von ihm zusammen brüllen ließen. Niemand hat seine Worte verstanden, die Botschaft dahinter war jedoch unverkennbar. Dabei waren die Männer aus dem Osten mit Katzendreck an den Kleidern verschmiert und nicht einer war ohne Krallenstriemen an den Händen.
Ich liebe meine Katze.

Ende Mai 1945
Leider hat die unselige Geschichte mit dem Fahrrad die Amerikaner auf unser schönes Bauernhaus am Ende der Dickertstraße aufmerksam gemacht. Jetzt stehen sie vor der großen Dielentür und wollen es haben. Wir müssen ausziehen. Wir können oben bei Mettwurstmöller unterkommen, dann haben wir es wenigstens nicht so weit, um die Kuh zu melken und die Hühner zu füttern. Aber wie die unsere Emmi angeschaut haben, das hat mich doch sehr zornig gemacht. Aber was können wir Frauen schon gegen eine Armee bewaffneter Männer ausrichten? Emmi ist gerade erst konfirmiert, sie muss sich verstecken. Das ist aber gar nicht so einfach. Da ist Minna etwas eingefallen, das klappen könnte. Emmi soll meine alten Sachen tragen. Sie soll sich das uralte, löchrige Kopftuch umbinden und so ihre wunderschönen schwarzen Zöpfe verstecken.
Die Männer in meinem Haus haben einen anderen Zeitvertreib gefunden. Sie haben das Motorrad meines Schwiegersohns an seinem Haken im Schoppen entdeckt. Ich war eben bei den Hühnern und wollte sie füttern. Die armen Tiere waren so erschrocken, dass sie gar nicht zum Fressen herauskommen wollten. Die Spuren in der Grasnarbe des Hühnerhofes und das liegende Motorrad erzählten mir, was vorgefallen sein musste. Die Amerikaner hatten die Maschine vom Haken genommen und sie im Hühnerhof leer gefahren. Dann haben sie das Flugzeugbenzin in den Tank gefüllt. Das hat der Motor nicht verkraftet, der braucht ein Gemisch aus Öl und Diesel. Jetzt ist es hinüber. Mein Schwiegersohn Karl wird sich gewaltig ärgern, wenn er nach Hause kommt. Er liebte seine Miele. Ich bete jeden Abend, dass es bald soweit ist. Hoffentlich lebt er noch, eine Nachricht wäre schon schön.

Mitte Juni 1945
Die ersten Kirschen sind endlich reif. Jetzt wird es bestimmt wieder besser. Ich weiß bisher jedoch nicht, wie wir die Früchte pflücken sollen, die Leiter ist weg. Es ist so viel weg gekommen aber die fehlende Leiter ist schon sehr schmerzlich. Wie sollen wir die Früchte ganz oben im Baum ohne sie ernten? Ich will doch mit dem Fahrrad und dem Hökerkorb nach Rinteln. Auch warten eine ganze Ansammlung Weckgläser auf Füllung. Der Garten ist, so gut es eben mit den Hausbesetzern ging, bestellt. Wir haben den Acker mit der Kuh gepflügt und dann Kartoffeln gepflanzt und Weizen gesät. Und dann sind die Amerikaner weiter gezogen! Wir haben das Haus wieder für uns.
Jetzt blühen die letzten dicken Bohnen im Garten. De meue Tid, die müde Zeit ist da. Wenn ich jetzt noch eine Leiter hätte, dann könnte ich die Seele des Sommers, die Hitze in meinem Garten und das einschläfernde Summen der geschäftigen Bienen genießen.
Wenn doch nur der Karl wieder da wäre, der ist Zimmermann und könnte uns eine schöne Leiter zusammenzimmern. Doch wir haben seit dem Kriegsende noch nichts von ihm gehört. Hoffentlich kommt er bald wieder.

Doch es sollte noch ein gutes viertel Jahr dauern, bis es laut an der Dielentür klopfte. Draussen fegte ein eisiger Wind das Laub von den Bäumen und der Ofen knisterte laut, weil wir trockene Tannenzweige hineingeworfen hatten. Der Hund bellte wie verrückt auf der Diele und kratzte an der Tür. Er kratzte doch sonst nicht wie verrückt, bis endlich jemand öffnete. Das kam mir sehr verdächtig vor und da Minna den Erwin schon zur Tür geschickt hatte, sagte ich ihr, sie solle mal hinterher gehen, da stimme etwas nicht. Minna schaut mich auch schon ganz beklmmen an und war schon auf dem Sprung. Da hören wir lautes Geschrei von der großen Diele! Was ist denn da los? So schnell es geht, laufe springe ich auf, Minna ist schon vor mir aus der Tür. Als ich hinzutrete, da traue ich meinen Augen nicht! Da steht doch der Karl und drückt den Erwin und die Emmi an seine hohlen Wangen! Minna stehen die Freudentränen in den Augen, sie kullern ihr bald die Wangen hinab. Auch ich muss gestehen, ich habe feuchte Augen. Der Karl ist zurück! Welch eine Freude! Er ist den ganzen Weg von Rumänien über die Alpen zu Fuß hierher gewandert. Nur die letzte Etappe von Hameln hat er den Zug genommen. Jetzt ist endlich alles wieder in Ordnung. Er kann sich nicht wehren, weil er immer noch die Kinder im Arm hat, als ich ihm einen Kuss auf die Wange drücke.
Als Karl wieder zu Atem kommen darf und die wir zur Feier seiner Rückkehr ihm ein großes Rührei in der Pfanne gebraten haben, erzählte er von seiner abenteuerlichen Heimreise aus Südeuropa. Es tat ihm sehr leid, dass er sich nicht gemeldet hatte, doch es erschien ihm als zu gefährlich. Zwei seiner Kameraden haben den Heimweg nämlich nicht überlebt, weil sie meinten, sie könnten jetzt tagsüber durch die Täler der Alpen laufen. Aber unser Karl hat alles überlebt und ist pünktlich zum Winetreinbruch wieder zu Hause. Jetzt muss er nicht in der Kälte draußen schlafen, sondern kann es sich am heißen Ofen gemütlich machen.
Doch es liegt noch so viel im Haus in Trümmern. Als erste große Tat hat Karl eine Leiter gezimmert. Jetzt können wir nächstes Jahr im Sommer alle Kirschen vom Baum holen. Karl hat auch eine Verwendung für den geborstenen Benzintank aus dem Bomber gefunden. Er hat eine Wand und ein Stil daran gezimmert. Der alte Bombertank dient uns jetzt als Kornscheffel. So wurde bei uns der weise Spruch aus der Bibel umgesetzt, dass Schwerter zu Pflugscharen werden. Ich bete jeden Abend, dass alle Menschen auf Erden endlich Frieden finden und hoffe, dass das nahe Weihnachtsfest diesen Wunsch wahr werden lässt.

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